Pfarrer Wolfgang Hierl

„Ein Tag am Strand – so stelle ich mir die Hölle vor.“



„Es darf keine Tabus geben. Es muss über alles gesprochen werden. Empathie ist die wichtigste Eigenschaft in meinem Beruf, um sich in die Menschen mit ihren Nöten hineinversetzen zu können. Deshalb vereinbare ich mit jedem innerhalb von 24 Stunden ein Gespräch. Das signalisiert, ich bin für dich da, deine Situation ist mir wichtig. Das ist mein Beruf, dafür werde ich bezahlt.“

 

Wer so spricht, ist kein vergeistigter Pfarrer von Anno dazumal, sondern ein moderner Seelsorger, der mit der Zeit geht.

Der mitten im Leben steht und die aktuellen Herausforderungen annimmt, mit denen sich Kirche und Gesellschaft auseinanderzusetzen haben. Und dieser Mann kommt jetzt gutgelaunt und pfeifend die Treppe des Pfarrhauses heruntergelaufen, öffnet schwungvoll die Tür und sagt: „So ein schöner Tag. Kommen Sie herein.“ So sonnig und heiter die Stimmung von Pfarrer Wolfgang Hierl, so sonnig, hell und freundlich ist die Atmosphäre in seinem Wohnzimmer.

 

Die breite Fensterfront lädt zum Ausblick ins Grüne ein. „Für eine Person viel zu groß“, sagt Pfarrer Hierl. „Bei der Wohnungsnot heute hab ich oft ein schlechtes Gewissen, dass ich soviel Wohnraum habe. Aber ich kann nichts wegschneiden. Das Haus ist so gebaut.“ Heitere Akzente auch bei einem ernsten Thema. Vielleicht denkt er gerade deshalb so, weil er mit zwei älteren Brüdern in einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb in Neukirchen Heiligblut aufgewachsen ist, in einer Familie, in der man mit vorhandenen Ressourcen sparsam umging.

Am 13.11.1972 als Nachzügler geboren, traf man sich bis zum Tod des Vaters jeden Sonntag im Elternhaus. 

 

Die Brüder kamen mit ihren Familien und die Eltern hatten für alle und alles ein offenes Ohr. Man war nie allein auf sich gestellt. Wenn die Lautstärke zunahm, weil alle gleichzeitig redeten, seufzte die Mutter schon mal: „Mei, heut’ schreien wieder alle durcheinander.“ Was nie böse gemeint war, sondern ausgleichend, ruhig, liebevoll und immer nachfragend. Dem Vater war wichtig, dass aus seinen Buben was wird. Jeder kann tun und lassen, was er will, aber einen guten, anständigen Beruf sollten sie erlernen. Die Weichen dafür stellte der Jüngste mit dem Eintritt ins Johannes-Turmair-Gymnasium in Straubing. Nach der Freiheit auf dem Land endlich die Weite einer Stadt genießen! Wenn es auch nur die der Kleinstadt war. „Nach dem Abi fragst du dich, was möchtest du ein Leben lang machen? Und da ich mir bei einem Schnuppertag an der Uni Regensburg das Priesterseminar anschauen konnte, was mir gefallen hat, dachte ich, das probiere ich aus. Wenn’s nichts sein sollte für mich, merke ich das nach einem Jahr. Ich habe es bis heute nicht bereut.

Das studentische Zusammenleben, noch dazu am Bismarckplatz – schöner geht’s nicht. Die akademische Freiheit, auch mal eine Vorlesung ausfallen zu lassen, überhaupt das Studentenleben habe ich genossen“, sagt Wolfgang Hierl und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gibt es da keine Zweifel. Nach dem Theologiestudium und dem Diplom 1998 war er nicht sicher, ob er sich schon zum Priester weihen lassen sollte. „Ich hatte kein klassisches Berufungserlebnis, keine Stimme von oben. Eine Priesterweihe ist wie der Entschluss zu heiraten. Es ist eine Entscheidung fürs Leben. Ich habe mir also von 1998 bis Sommer 1999 eine Auszeit genommen und bin bei meinem Bruder Taxi gefahren. Der Umgang mit Menschen, die Krankenfahrten vom Bayerischen Wald bis Regensburg zur Dialyse und die Gespräche, die man führt, haben mir gutgetan. Die Leute erzählen im Auto mehr als im Beichtstuhl. Ich habe diese Auszeit nicht bereut. Nur der Leiter vom Priesterseminar war nicht erfreut. Es ist natürlich für einen Personalchef ein Problem, wenn zur Priesterweihe nur zwei Leute aufschlagen.“ Da ist er wieder, der Unterhaltungsfaktor seiner Wortwahl! „Nach einem Pflegepraktikum bei den Barmherzigen Brüdern, wo man Dinge tun muss, bei denen man nichts anrichten kann, z. B. Bettpfannen ausleeren und Tote versorgen, machte ich noch ein Praktikum in einem Behindertenheim in Offenstetten und in Fichtelberg, über den Bergen bei den sieben Zwergen. Als ich mich nach der Auszeit wieder zurückmeldete, war der Personalchef heilfroh, mich wiederzusehen. Ich absolvierte ein Pastorialjahr in Lappersdorf und nach der Priesterweihe im Juli 2000 begann meine Zeit als Kaplan in Roding. Wenn man seine erste Stelle anfängt, ist das ein bisschen wie die große Liebe. Man startet voller Elan und denkt, jeder hat nur auf dich gewartet. Nach drei prägenden Jahren dort wechselte ich für zwei Jahre nach Deggendorf. Dann bekam ich von meinem Personalchef 2005 einen Anruf, dass ich eine eigene Pfarrerstelle in Ahrain antreten könne. Ich wusste nicht, wo das ist und gab den Ort in den Routenplaner ein.

 

Aber der war zu der Zeit noch nicht so ausgereift und konnte mir auch keine Auskunft geben. Ich dachte nur, was hast du angerichtet, dass du an einen Ort gehen musst, den keiner kennt. Mein Chef konnte mir mit dem Hinweis ‚das ist doch da, wo das Kernkraftwerk ist‘, weiterhelfen und so bin ich an einem Wochenende hingefahren und hab mir alles angeschaut.“ Pfarrer Hierl ist von den Gremien gut aufgenommen worden und er erzählt, dass Kirchenpflegerin Frau Steirer und Pfarrgemeinderatsprecher Josef Müller ihm sehr geholfen hätten, in der Pfarrei Fuß zu fassen. „Natürlich ist es erst einmal etwas beängstigend, mit Baufragen und arbeitsrechtlichen Dingen konfrontiert zu werden. Als Theologe lernst du das nicht und musst dir erst Wissen aneignen. Er erinnert sich noch an ein spezielles Erlebnis. „Ich stand in der Waschanlage in Essenbach, als ein Herr vom Gewerbeaufsichtsamt anrief und sagte, dass ich eine schwangere Erzieherin beschäftige und deshalb mit einem Fuß im Gefängnis stehe. Da wirst du gangig (schnell) “, sagt der Pfarrer.

Für fachliche und kirchenrechtliche Fragen gibt es Anlaufstellen in der Diözöse. 

Aber was macht ein Pfarrer, der sich mal vertraulich, von Mensch zu Mensch unterhalten möchte? Der wählt die Nummer seines Freundes Grillmeier Sven, der Pfarrer in Kirchenlaibach ist. „Das ist das Problem eines katholischen Pfarrers, der zölibatär lebt und nicht das Korrektiv eines Ehepartners im Haus hat, der ihm sagt, was spinnst du heute wieder oder wie hast du dich heute wieder zusammengerichtet. Da musst du dir ein Beziehungsnetzwerk aufbauen, von dem du dir was sagen lässt“, klärt Pfarrer Hierl auf. Das scheint zu klappen, denn gut schaut er aus im hellblauen Hemd und dunkler Hose.

 

Seelsorger, Manager, Moderator, das Berufsbild hat sich in den letzten Jahren verändert. Welchen Herausforderungen müssen sich der Pfarrer und auch die Kirche heute stellen? „Weniger Personal, weniger Kindergärten, weniger Gottesdienste, alles wird zusammengestrichen. Aber die Arbeit bleibt die gleiche und du gibst dein Bestes. Dieser Abbauprozess führt dazu, dass manche Kollegen krank werden. Und auch die Gesellschaft hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr verändert. Als ich noch Kaplan war, war alles homogener, man hielt zusammen. Die Fliehkräfte, die heute an der Gesellschaft ziehen, sind sehr stark geworden. Extreme Einstellungen haben zugenommen, sind schwer zu händeln und gleiten in Ideologien ab, die nicht mehr nachvollziehbar sind. Immer mehr Leute gehen ihren eigenen Interessen nach, haben nicht mehr das Ganze im Blick. Die Kirche erhebt den Anspruch, Normen festzulegen. Das ist schwierig für Individuen, die selbstbestimmt leben wollen. Man bekommt als Pfarrer auch viel ab, ohne, dass man etwas dafür kann. Die Kirchenskandale haben mich zutiefst getroffen. Als es 2010 losging, war ich Pfarrer in Ahrain und musste jeden Tag an prominentester Nachrichtenstelle diese Dinge hören. Man macht da selber einen Prozess durch und denkt zunächst, die würgen dir was rein, das sind Einzelfälle. Du verdrängst es erst. 

 

Die Kirche ist wie eine Familie. 

Wird in dieser schlecht über deinen Sohn gesprochen, denkst du, das kann nicht sein und wehrst das Problem ab. Dann gehst du den schmerzhaften Weg der Erkenntnis. Bei der Kirche wiegt das Problem natürlich schwerer, weil sie ihre Maßstäbe wie eine Monstranz vor sich herträgt. Ich bin sehr kritisch meiner Kirche gegenüber. Aber es sind inzwischen Mechanismen eingebaut worden, wie z.B. das Vorzeigen eines Führungszeugnisses für den, der mit Kindern arbeitet. Eine Präventionsordnung wurde erstellt und für Ministranten gibt es eine Anlaufstelle, sollte es zu Übergriffigkeit kommen. Es wird nicht alles verhindern, aber wir sind sehr sensibel geworden. Natürlich werden uns diese Skandale die nächsten Jahrzehnte wie ein Kloss am Bein hängen. Wir leben in einer pluralen, aufgeklärten Gesellschaft und ich bin überzeugt, die Kirche hat auch dieser modernen Welt etwas zu sagen. Ich kann heute einem Homosexuellen nicht sagen, was du bist, gibt es nicht, weil es nicht stimmt.

Die Kirche kann die Gesellschaft nicht ändern, sondern muss ihren Platz und ihre Rolle in der Gesellschaft finden. Jetzt sprechen wir als Kirche wenigstens schon über diese Themen. Vor zwanzig Jahren wäre das undenkbar gewesen. Auch der synodale Weg ist richtig. (U.a. Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs, Rolle der Frau in der Kirche, Machtmissbrauch). Aber die deutsche Kirche kann das nicht allein entscheiden. Es würde zu einer Kirchenspaltung kommen. Wir sind eine Weltkirche. Es muss von Rom mitentschieden werden. Wir brauchen dieses Band und eine Instanz. Das hat nichts mit Kadavergehorsam zu tun. Aber die Kirche ist wie ein riesiger Tanker. Wenn der wenden will, dauert das seine Zeit.“ 

 

Von 2005-2015 Pfarrer in Ahrain, seit sechs Jahren in der größten katholischen Kirchengemeinde Landshuts, in St. Wolfgang tätig. Man fragt sich, wie ein Mensch das aushält, positiv bleibt bei den Negativschlagzeilen und der Arbeitsbelastung. Hundert Beerdigungen im Jahr, Traueransprachen, zugleich in der Notfallseelsorge im Einsatz, in der er Menschen in Ausnahmesituationen Beistand leistet. „Ich lasse es an mich ran, kann aber nicht bei jedem mittrauern. Bei besonders tragischen Todesfällen ist das Wichtigste, den Angehörigen zuzuhören, da zu sein, auch das Schweigen auszuhalten. Manchmal gibt es nichts zu erklären, weil man es nicht erklären kann. Ich nehme es mit ins Gebet und lasse es dann los. Man muss lernen, es ablegen zu können.“ Hadert er in diesen Fällen nicht manchmal mit Gott und dem Schicksal? „Ja natürlich“, sagt Wolfgang Hierl. „Was hat er sich zum Beispiel bei Corona gedacht? Aber wir müssen davon Abstand nehmen, dass Gott jedes Schicksal lenkt. Gott hat uns die Freiheit geschenkt. Freiheit bedeutet aber auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Gott ist viel mehr als ein guter Freund. Er hört mir zu und schon dadurch entlastet er mich. Das Gebet macht mich ruhiger, gelassener. Gott wird mich aber nicht aus meinem Schlamassel befreien. Ich muss die Sache schon selber in die Hand nehmen. Aber am Ende meines Lebens wird er mich nicht fallen lassen. Ich weiß, dass militante Christen anders denken. Denen soll Gott alles abnehmen. Aber so funktioniert unser Glaubenssystem nicht.“

 

Was Pfarrer Hierl schmerzt, ist der Rückgang der Gottesdienstbesucher und die Kirchenaustritte. „Es ist wie ein persönliches Versagen“, sagt er. „Obwohl ich vom Kopf her weiß, dass es andere Gründe sind.“ 

Vielleicht kommt ihm da seine mentale Stärke zugute und seine Devise: Nicht aufgeben!  „Auch, wenn man zwischendurch mal pausieren muss, tue ich alles, um mein Ziel zu erreichen. Da lasse ich nicht locker.“ Ein Glockenschlag von seiner Hauskirche St. Wolfgang unterstreicht seine Worte. Perfektes Timing! Hemingways ‚Wem die Stunde schlägt‘ kommt in den Sinn. Bei Pfarrer Hierl müsste es heißen: Wenn die Stunde schlägt. Er ist Pünktlichkeitsfanatiker! Kein fünf vor und kein fünf nach. „Mein Kaplan, er ist Brasilianer, versteht mich in diesem Punkt auch nicht“, sagt Pfarrer Hierl, lacht hell auf und transportiert mit diesem Lachen eine Aufgeräumtheit und Heiterkeit, die ansteckend ist. 

 

Hat er eigentlich jemals über eine eigene Familie nachgedacht? „Ja klar denkt man sich in ruhigen Minuten schon mal, wie wäre es gewesen, wenn ich geheiratet und Kinder hätte. Aber auch in Familien gibt’s Probleme. Vielleicht denkt sich mein Nachbar, hat es der Pfarrer schön. Der geht jetzt heim und hat seine Ruhe. Man sieht immer bei anderen das, was man nicht hat. Aber ich habe meine Herkunftsfamilie, die Kinder meiner Brüder.“ 

 

Zufrieden ist Pfarrer Hierl auch, wenn er am Ende des Tages feststellt, dass das, was er an diesem Tag getan hat, Frucht gebracht hat. Eine vom Glauben geprägte Taufe, Trostspendung bei einer Beerdigung. „Unglaublich dankbar wäre ich, wenn die Gesellschaft auf das Gemeinwohl schauen und nicht nur eigene Interessen durchsetzen würde. Immer mehr – mehr Geld, mehr Urlaub, größere Autos – welche Auswirkungen hat das für unsere Zukunft? Die Klimadiskussion wird nur mit Verzicht gehen. Nur auf neue Technologien zu setzen, daran glaube ich nicht. Wir müssen runter von unserem Wohlstand und das geht, auch ohne uns zu kasteien.“ Die Verringerung von Pfarrer Hierls ökologischem Fußabdruck besteht aus Zugfahren, jetzt, wo er von St. Wolfgang nur einen Katzensprung zum Bahnhof hat. Von dort startet er in den Urlaub. Dieses Jahr ging es zum Wandern nach Südtirol und nach Nürnberg, Augsburg und München zur Kirchen-und Museen-Besichtigung. „Urlaub ist eine Zeit, wo ich nicht im Hamsterrad drin bin, sondern mich frei fühle. Der schlimmste Urlaub für mich wäre, den ganzen Tag am Strand zu sitzen. So stelle ich mir die Hölle vor.“ Und schon sprintet er die Treppen des Pfarrhauses wieder hinunter und öffnet die Haustür. „Das ist mein einziger Sport“, sagt er. „Dafür renne ich die täglich bis zu dreißigmal, vom Erdgeschoss bis zu meinem Arbeitszimmer im zweiten Stock.“ Vielleicht sollte er sich zur Treppenlauf-Meisterschaft 2022 anmelden. Gute Chancen auf einen vorderen Platz hätte er.

 

 „Ich habe mir angewöhnt, jeden Menschen anzuhören und selbst, wenn er verrückt ist, ernst zu nehmen. Und nie entmutigt zu sein“, schrieb Hemingway als sein Erfolgsrezept auf. Da sind durchaus Parallelen zu Pfarrer Hierls Ansichten.

Vielleicht ist das auch das Geheimnis seiner Beliebtheit und Strahlkraft. Denn Charisma hat er – als Pfarrer und Mensch.

Dazu gibt’s keine zwei Meinungen. Das ist Fakt.