Veronika Wiethaler


eine Frau mit Pioniergeist


Ihr Elternhaus liegt so abseits, dass sogar das Navi zu früh aufgibt und in Dauerschleife darauf beharrt „Ziel erreicht", obwohl uns noch fünf Ziffern vom Zielort trennen. Ich diskutiere nicht lange mit der pedantischen Stimme, ziehe den Stecker und frage einen Spaziergänger. „Hier hinten steht noch ein Haus" deutet er die Kiesstraße hoch.

 

 

Das Haus duckt sich in die Mirskofener Hügellandschaft und ist mit dem Grün der Flora zu einer Einheit verschmolzen. Würde nicht der kleine, rote Flitzer mit dem unverkennbaren „I" für Italien in der Einfahrt parken, wäre ich daran vorbei gefahren. Sie ist wieder mal zu Besuch bei ihrer Mutter in Niederbayern. Nach achtstündiger Fahrt von Genua, ihrem Lebensmittelpunkt, ist sie soeben in der alten Heimat eingetroffen und schwärmt: „Das Vogelgezwitscher, das Geräusch des vorbeifahrenden Zuges, der Geruch von Heu – das ist für mich Heimat. In dieser Idylle bin ich groß geworden." Wir sitzen auf der Veranda mit Blick auf den wild-romantischen Garten und Veronika Wiethaler nimmt mich ein Stück mit auf ihrer Lebensreise.

 

„Es war ein Privileg, hier mit zwei Geschwistern aufwachsen zu können, in einer aufgeschlossenen, liberalen Atmosphäre, in der uns schon früh soziales und politisches Engagement als Lebenselemente mitgegeben wurden", nimmt sie das Gespräch auf. „Wir hatten als Kinder die Freiheit, ohne Einschränkungen die Umgebung zu erkunden. Wir wurden nicht von ängstlichen Eltern gebremst. Das hat uns sicher das nötige Selbstvertrauen gegeben, um gefestigt in die Welt hinauszugehen." Nach Realschule, sozialem Jahr und abgeschlossener Altenpflegeschule in München, wechselt sie auf die Berufsfachschule für Musik in Plattling, widmet sich der Blockflöte und intensiviert und ergänzt diese Ausbildung im Carl Orff Institut des Mozarteums Salzburg mit musikalischer Früherziehung. Vier Jahre genießt sie das Kulturleben der Mozartstadt, besucht Konzerte, lässt sich künstlerisch inspirieren und formen. Dann ist die Zeit reif für Veränderungen. Mit 27 Jahren zieht es sie nach Massachusetts/USA, um sich Wissen über die Bewegung „Body-Mind Centering" anzueignen. Veronika Wiethaler bleibt ein Jahr in den Staaten, lebt unter anderem in New York, schätzt den Freigeist und die Kreativität in dieser großzügigen Metropole und erwirbt in vielen Kursen umfassende Kenntnisse über Tanz und Bewegungstherapie. Den ganzheitlichen Weg zu Gesundheit durch Bewegung und Körperarbeit kann sie nun therapeutisch umsetzen und nutzt diese Fähigkeit, um als freiberufliche Bewgungstherapeutin in Berlin zu arbeiten. Es ist die Zeit nach dem Mauerfall. Die Stadt ist im Umbruch und die 31-Jährige erlebt, wie sich Ostberlin wandelt. „Konnte man anfangs noch seinen Gedanken nachhängen, weil keine großflächigen Werbetafeln ablenkten, änderte sich das in kürzester Zeit und Ostberlin wurde regelrecht mit Werbung bombardiert," bedauert sie diesen Aspekt der westlichen Annäherung. „Berlin war anregend, spannend, aber auch anstrengend. Ich lebte in Kreuzberg, in einem ehemals besetzten Haus und hatte viele Gleichgesinnte gefunden, mit ähnlich improvisiertem Lebensstil." Sie absolvierte eine Heilpraktikerausbildung, die als Fundament für die rechtliche Grundlage zur Ausübung von BMC (Body-Mind Centering) nötig war, und stellte an einem kalten, grauen 1. Mai in Berlin fest – es ist Zeit zu gehn. Diese Meinung teilten auch zwei Freundinnen, eine Papierrestauratorin und eine Italienischlehrerin. Laura, die Lehrerin, kannte jemanden in Rom und sie würden sich schon durchfragen. Zwei Probewochen waren geplant. Veronika Wiethaler blieb 1 1/2 Jahre. „Und wie war die Zeit in Rom?" „Oh Gott", sagt sie mit kehliger Stimme und lächelt amüsiert.

 

Während sie kurz reflektiert, gehe ich meinen eigenen Gedanken nach. Müsste ich die überzeugte Weltenbummlerin, die unvoreingenommen und ohne Schubladendenken auf Leute zugeht, in der Vier-Elemente-Lehre zuordnen, würde ich sie in den Elementen Erde und Luft ansiedeln. Wer in der Kindheit geerdet aufwächst, verliert nie seine Bodenhaftung und den Bezug zur Realität. Verschiedene unterschiedliche Herangehensweisen an das Leben, den Beruf, waren bei ihr immer an eine Struktur gekoppelt und der rote Faden die Leitlinie. Das hört man aus der Erzählung der begegnungsfreudigen, kreativen Kommunikationskünstlerin heraus, womit das zweite Element geklärt wäre.

 

„Dann kam die Liebe. Alessandro aus Genua. Aber bevor ich mich in diese Beziehung stürzte, wollte ich auf eigenen Beinen stehn", beschreibt sie die damalige Situation. „Wir könnten ein Buch zusammen schreiben", schlug ihr Alessandro, Professor für Theaterwissenschaft und Kinogeschichte, der heute an der Uni Perugia doziert, vor. Begeistert nahm sie an. Sie interviewten den Filmemacher und Regisseur Edgar Reitz, der mit seiner Spielfilm-Triologie „Heimat" weit über die Landesgrenzen bekannt war und zusammen kuratierten und übersetzten sie die „Nacht der Regisseure" ins Italienische. „Ich ging im Jahr 2000 nach Genua und blieb. Dann kam Elisa auf die Welt und die Odyssee nahm ein Ende. Kinder brauchen eine beständige Umgebung und Freunde. Es war Zeit, dass ich mich an einem Platz fest verankere", gesteht sie ohne Bedauern. „Da meine Tochter nicht in meinem Kulturkreis aufwächst, ich ihr aber auch etwas von der deutschen Identität vermitteln möchte, habe ich sie auf die Deutsche Schule in Genua geschickt. Sie beherrscht die Sprache und kann später einmal wählen, wo sie leben möchte." Gesellschaftlich und beruflich ist die vielseitig Interessierte im Heimatland ihres Mannes angekommen und hat viel auf die Beine gestellt. Sie war die erste Deutsche, die in Genua Blockflötenkurse anbot und sie ist auch die Gründerin des ersten Genuesischen Blockflötenorchesters. Der Pioniergeist der Veronika Wiethaler ist unerschöpflich. Sie schrieb das erste Buch in italienischer Sprache über Beckenbodenübungen und machte damit viele Italienerinnen glücklich. Besonders Hebammen profitieren von ihren Intensivkursen. Denn Präventivmaßnahmen in der Gesundheitsvorsorge sind in ihrem Zweitheimatland noch nicht weit genug entwickelt. „Wie charakterisieren Sie die Italiener?" „Die Leute kommunizieren gerne und sind sehr freundlich und interessiert, gehen aber beim Gespräch nicht zu sehr in die Tiefe. Das bleibt der Familie vorbehalten, auch wenn man sich noch so gut kennt. Da sie meistens mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten zu tun haben, behördlich, beruflich, in der Vetternwirtschaft, sind sie Meister in der Improvisation. Familie und Freunde werden in Ämtern untergebracht. Deshalb ist fast jeder mit jedem verwandt oder freundschaftlich verbandelt. Außerdem gibt es abends keine Brotzeit wie bei uns früher, sondern es wird gekocht", und die Veronika lacht. Und seit Freunde so gegen 18 Uhr immer vorsichtig anfragten, ob sie vielleicht beim Abendbrot störten, gehören die deutschen Essenzeiten auch der Vergangenheit an. „Auch wenn ich gut italienisch spreche, ist doch immer eine Minianstrengung mit dabei. Deshalb ist Mirskofen die totale Entspannung für mich", seufzt sie und horcht hinein in die Stille des nächtlichen Gartens, die sie so schätzt, um dann noch ein politisches Statement abzugeben. „Im italienischen Parlament sitzen überwiegend Männer. Aber statt für eine bessere Infrastruktur zu sorgen, gilt ihr Interesse nur der Frage „Wer ist der wichtigste Gockel hier. Die positive Vorstellung, die wir Deutsche von den Italienern im Umgang mit ihren Kindern haben, wird davon überschattet, dass in der heutigen Realität der Staat sehr wenig dafür leistet, dass diejenigen, die nach uns kommen ein fruchtbares Feld vorfinden. Unglaublich viele junge Menschen suchen heute ihr Glück im Ausland und arbeiten dort oft auf hohem Niveau. Man nennt diese Abwanderung ‘la fuga dei cervelli’ die Flucht der klugen Köpfe. Das ist eins der traurigen Ergebnisse der Politik der letzten 15 Jahre.” Deutliche Worte von einer, die auszog, um das Leben verstehen zu lernen. Und sie ist angekommen. Bei sich und der Welt. Geradlinig, floskellos und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Da cosa nasce cosa – aus einer Sache entsteht eine Andere – ihr Leitspruch. Da kommt noch was. Da bin ich mir sicher!



Dieser Text erschien erstmals im Essenbacher Weihnachtsfenster 2013