Er kommt immer montags, pünktlich um 10, wenn aufgesperrt wird, in den Schelling-salon. Dann nimmt er seinen Fensterplatz ein, links hinten, unter den blau-weißen Vorhängen, putzt seine Brillengläser und schlägt seinen ramponierten „Alfred Polgar” auf, der mehr Kaffeehausflecken beinhaltet, als man Buchstaben lesen kann.
Im unverkennbaren Wiener Dialekt ruft er nach der Wirtin: „Geh hearst Evelin, bringen’s mir a Kanderl Kaffee und vergessen’s des Glasl Wosser ned dazu”. „Bei dem Hundswetter hätt ich Sie heut nicht erwartet”, bemerkt die Wirtin und serviert das Gewünschte. „Wos soi i daham. Seit mei Frau nimmer is, is staad worn und letzte Woch is auch noch der Beppi eiganga. Es wor zwar nur a Vogel, aber g’rührt hot sich wos.
Na, na, do komm ich schon lieber zu ihnen. Noch dazu, wo des Beuscherl so gut schmeckt, fast wie daham in Wien. Sie können des Knödlwosser scho aufstellen, Evelin, und bringen’s mir nacher zum Essen noch an Obstler mit. Ich les noch a Rundn.“ Mit einem „is scho guad” verschwindet sie in der Küche.
Ein weiterer Gast hat die Wirtsstube betreten. Durch die offene Küchentür verhandelt er kurz mit der Wirtin und kommt dann mit einem Satz Billardkugeln zurück. Die Stille des Raumes wird nun durch das Klacken der Kugeln unterbrochen. Eine ganze Weile geht das so. „Entschuldigen’s, junger Mann, aber mocht des an Sinn, wos Sie da so treiben, allein Billardspuin?” „Nix macht einen Sinn. Ich spiele, um nachzudenken. Dazu brauche ich keine anderen Leute”. Die Wirtin erscheint und bringt das bestellte Beuscherl. „Ja, Michi, gehst heut schon wieder nicht in die Vorlesung. Wenn du so weitermachst, wird aus dir ein ewiger Student und des musst dir heutzutag leisten können.” Mit einem Stoß befördert er die Kugeln wie aus Teilchenbeschleunigern in die Taschen. Kollision, klack, klack, klack – concerto fulminante.
„No, woher sans denn so verbittert, so ein junger Kerl wie Sie – aber a Leben steckt in Ihnen, direkt beneidenswert”, mischt sich jetzt der Wiener ein. „Und des Leben versauen sie mir gründlich in den Geschichtsvorlesungen. Altgriechisch und Philosophie studiere ich. Glück, Freude, Lust ist der Zweck des Lebens, sagen die Epikureer, um die alten Griechen zu nennen. Aber was unsere Professoren, diese Korinthenkacker aus dem Stoff machen, hat mit der Realität im alten Griechenland überhaupt nichts zu tun. Nehmen’s z. B. den Diogenes. Der soll auf dem Marktplatz masturbiert haben.“
„Nichts von dem, was lebensnotwendig ist, ist schädlich’”. Kennen’s die Aussage? Stammt auch von einem alten Griechen”, entgegnet der alte Wiener und zupft wie immer seine Fliege zurecht. „ Konfrontieren Sie mal mit dieser Aussage den Weihrich! Der würde das leugnen. Der stellt seine Griechen auf einen Sockel. Unantastbar. Verlogene Gesellschaft! Ich würde am liebsten hinschmeissen, aber mein Vater zahlt das Studium.” „Ich kenn den Universitätsbetrieb. Hob Pädagogik studiert. Is aber scho a poar Jährchen her. Woll’n Sie sich ned a bisserl zu mir setzen. Mich interessiert’s, wie der Betrieb heut so läuft.“
Inzwischen ist es Mittag geworden und die Wirtsstube bis auf wenige Plätze gefüllt. Akkurat gekleidete Herren vom Sprach-Trainingscenter schräg gegenüber beherrschen kurzzeitig das Geschehen im Schellingsalon. Noch einmal die Weißwurst eintunken in den Händlmaier-Senf, etwas Handfestes genießen und spüren, bevor sie aufbrechen ins Reich der Mitte, wo Schlüpfriges durch Stäbchen flutscht. Berta Hofmeister, Änderungsschneiderin mit eigenem Geschäft gleich um die Ecke, erscheint im roten Kostüm – adrett, bestellt Kaffee und Kuchen. Laborantinnen aus der nahegelegenen Gerichtsmedizin flattern im Schmetterlingspulk herein und belegen den letzten freien Wirtshaustisch.
Das ist Luigis Stunde. Nachdem er mit 35 Jahren noch immer nicht daran dachte, aus der 2-Zimmerwohnung seiner Mutter auszuziehen, obwohl doch bereits die Enkelkinder der Signora nachrückten. „Mamma verwandelte sich in heiße Scirocco und blies mich aus Haus. Sie brodelte wie Dampfhöhlen bei Lago d’Agnano und bevor sie Lava von Vesuvio zum Kochen bringt mit ihre Geschrei, bin ich gegangen. Ich soll erst kommen zurück, mit Frau, Arbeit und Wohnung” weihte Luigi die Wirtin in die Tragödie seines Lebens ein. „Bin ich gegangen nach Deutschland zu meine Cousin”, so der Neapolitaner. Dieser verschaffte ihm Arbeit in einem Auktionshaus. Luigi hatte die vortreffliche Aufgabe, die Preise hochzutreiben, bis er auf dem Bild „Die Schäferin” sitzenblieb. Er kletterte weiter auf der „ Erfolgsleiter” und stellte sich als Probant für einen Pharmakonzern zur Verfügung. Die Karriere endete mit einer Bluttransfusion, die ihm eine Gelbsucht einbrachte. Als er wieder auf den Beinen war, vermittelte ihn sein Cousin an einen Freund, und er verdiente seine Brötchen in dessen Pizzeria. Doch die Behörden entdeckten Silberfischchen und Kakerlaken und der Laden wurde geschlos-sen. Nachdem seine berufliche Entwicklung stagniert, ist Luigi auf Brautschau und hin-ter jedem Wesen her, das nur annähernd weiblich aussieht. Sein neuester Trick besteht darin zu warten, bis alle Tische besetzt sind, um sich dann an einen Damentisch heran-zumachen. Die Gelegenheit ist heute günstig. Fünf MTA’s von der Gerichtsmedizin und eine Schneiderin. „Haben Sie noch eine Platz für kleinen Italiener?” Er hat Glück, die Mädels rücken zusammen, doch keine interessiert sich für den potentiellen Frauenver-steher. Wer will schon einen kleinen, durchnässten Italiener mit abgewetztem Hemd-kragen und schütter werdendem Haar mit einem „Schäferinnen-Bild” unter dem Arm, von dem sich langsam der Rahmen ablöst. Der Verkauf des Bildes ist Luigi’s zweites Standbein, sollte es mit der Brautwerbung nichts werden.
Unbemerkt von den Anwesenden betritt Elsa den Schellingsalon. Draußen schneit es. Sie streicht die Nässe von ihrem abgewetzten, alten Wollmantel, poliert mit dem Handrücken kurz die angelaufene Billigbrosche am Mantelrevier. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, bewegt sie sich leicht hinkend, einen Einkaufstrolli hinterher ziehend, durch die Szenerie in Richtung Toiletten. Dort verweilt sie eine gute halbe Stunde. Niemandem fällt dies auf. Nur ein stiller Beobachter würde ihren Aufenthaltsort kennen. Als sie wieder zum Vorschein kommt, sieht Elsa aus, wie aus einer Posse entstiegen. Ihr platinblondes Gestrüpp von vorhin hat sie nun hochtoupiert und einen widerspenstigen Haarbüschel mit einer leuchtend pinken Klammer festgezurrt. Die Blässe ihres Teints, die Hautunreinheiten und faltigen Tränensäcke sind übertüncht mit reichlich Make up. Kräftig gepudertes rosefarbenes Rouge hebt ihre breiten Wangenknochen hervor, verleiht jedoch ihrem Gesicht nicht die gewünschte Frische, sondern clowneske Züge. Nur die innere Leere, Einsamkeit, die ganze Misere eines missglückten Lebens in ihren Augen lässt sich nicht überschminken. Aber sie hat an Haltung gewonnen. Zurechtgemacht in ihrem Billigchic fühlt sie sich repräsentativ und zielsicher strebt sie auf einen der beiden frei gewordenen Plätze zu. Als sie humpelnd endlich ihre Sitzgelegenheit erreicht, hat auch schon ein junger Mann den anderen Stuhl belegt. Die beiden kennen sich. „Hallo Marco, schön, dass du auch wieder mal da bist.” Ihr erfahrener Blick ruht kurz auf ihm. „Schaust aber nicht gut aus, Marco.” „Läuft auch nicht besonders, Elsa”. „Wo bist denn die letzten zwei Wochen gewesen?” „Eine Unterkunft hab ich gesucht. Konnte die Miete nicht mehr zahlen. Mit der Schauspielerei verdienst zur Zeit nichts. Wenn des so weiter geht, muss ich mir was anderes suchen.” „Jeder wartet im Leben auf seinen großen Wurf. Dem einen gelingt’s und den anderen beutelt das Schicksal. Du bist noch jung, des wird schon”, ermutigt Elsa den jungen Schauspieler. „Was man braucht ist Vitamin B oder Protektion, mit Talent allein kommst nicht weit – und ich kenn niemanden aus der Branche. Die schachern sich doch untereinander die Jobs zu. Brauchst nur in den Agenturen schaun, wie viele bekannte Schauspieler dort ihre Söhne untergebracht haben. Und wennst nicht grad auf der Falckenberg dein Abschluss gemacht hast, zählst du in München gar nicht. Du bekommst nicht mal eine Chance zum Vorsprechen”, zieht der junge Künstler Bilanz aus seinen Erfahrungen. „Weißt du was, Marco, jetzt lade ich dich auf einen Schweinsbraten ein. Mit vollem Magen sieht die Welt gleich wieder freundlicher aus”. Und schon winkt sie Evelin, die Wirtin, herbei und ordert das Gewünschte. „Nobel, nobel, Elsa”, bemerkt der 28-Jährige. „Bei dir läuft’s Geschäft wohl gut! Pass nur auf dich auf. Ist nicht ungefährlich, wenn du deine Freier mit zu dir nimmst. Wo du wohnst, hört dich keiner schreien, wennst mal einen Notfall hast.”
Jetzt setzt Elsa mit gespielter Entrüstung an: „Erstens, mein Junge, hab ich keinen Freier sondern einen Galan und zweitens kommt mir keiner ins Haus. Ich geh mit meinem Impresario ins Lichtspielhaus. Da ist nachmittags nicht viel los und die neuesten Filme bekomm ich auch noch mit”. „Ganz schön clever, Elsa. Aber weil du grad Impresario sagst. Könntest nicht mal einen aus der Filmbranche an Land ziehn?” „Ach Marco, den Auftrag hättest du mir vor zwanzig Jahren geben können. Ich war mal Miss Schwabing. Aber dann is ‘s’Leben‘ dazwischen gekommen”. Und augenzwinkernd fügt sie hinzu: „Und heut ist mein Typ nicht mehr gefragt.” Inzwischen wird das Essen aufgetragen, was bei Elsa glänzende Augen hervorruft und Marco zu der lakonischen Bemerkung veranlasst: „Tja, ohne Mäzen wird’s noch ein bisschen dauern, bis ich mich revanchieren kann.” „Lass es dir schmecken, Junge”, <
spricht Elsa, schon mit vollen Backen kauend. „Danke, Elsa, bist eine tolle Frau”.
Der nächste hereinkommende Gast klopft sich laut polternd den Schnee von den schwarzen Winterschuhen, stiefelt, nach allen Seiten grüßend, an seinen angestammten Platz, nahe am Tresen. Mit seinem langen, weißgefütterten Wildledermantel, dem schwarzen Cowboyhut und seiner ihm eigenen Gangart, wirkt er wie eine Reinkarnation von Franco Nero im Italo-Western Django. Im Gegensatz zu seinem Pendant trägt er Schnauzer statt Vollbart. Django ist wortkarg und zieht ständig einen Sarg hinterher. Der Münchner Django heißt Anton, ist wortstark und sein Vater war Totengräber. Soviel zu den Lebensparallelen der beiden. Django zieht in eine heruntergekommene, verlassene Stadt an der Grenze zu Mexiko. Anton kommt aus einem hübschen Dorf an der Grenze zu Oberbayern und fühlte sich anfangs sehr verlassen in der Stadt. In einem Punkt verschmelzen beide in Konformität. Sie verbringen viel Zeit im Saloon. Wobei es bei Anton nicht Saloon sondern Salon heißt und er „sein Wirtshaus” als seine schönste Wohnstube bezeichnet. „Bei dir fühl ich mich halt dahoim, Evelin”,flötet er der Vorbeieilenden zu. „Und wennst Zeit hast, bringst mir ein Weißbier”.
Anton ist aus Überzeugung Vollblut-Bayer und eher zufällig Angestellter im Amt für Wohnen und Migration. „Es hat sich halt so ergeben”. Er vermittelt Sozialwohnungen und gewährt Wohnungslosen vorübergehend Unterkunft in städtischen Notquartieren. „Bei meinem Mieterpotential brauchst Geduld und Nerven wie Drahtseile”, dröhnt Anton’s Stimme laut an Evelin’s Ohr. Sie beeilt sich mit dem Weißbier, denn sie hört gern die Geschichten von dem strammen, selbstbewussten Niederbayern. Und da die ersten Mittagsgäste sich schon zahlend verabschiedet haben, hat sie nun wieder etwas Zeit. „Bist wieder zu gutmütig g’wesen”, vermutet die Wirtin nach Anton’s Einführung. „Man möcht es nicht glauben, trotz meiner Menschenkenntnis bin ich bei der heutigen Wohnungsvergabe an den Falschen geraten. Stell dir vor, da schreibt oana aus’m Gefängnis ein herzzerreißendes Brieferl, er hätt jetzt Bewährung, braucht aber einen festen Wohnsitz bis zur Entlassung und ob er nicht bittschön a Unterkunft kriagt. Endlich find ich noch was Kloans mit Holz- und Kohleofen, er zieht ein und fragt, wo’s Holz bleibt. Ich leih ihm a Tragtasch’n und verweis ihn auf die Baustellen ringsum. Da hod er auf einmal Kreuzschmerzen und legt sogar ein ärztliches Attest vor.
Mit den Ausländern, jetzt hoaßns ja Migranten, machst wieder ganz andere Erfahrungen. Vor a paar Wochen bin ich zu einer Wohnung gerufen wordn, weil oana sei Küchentür als Feuerholz hergenommen hat. Ich sag zu ihm, in Rußland kannst du doch auch ned einfach deine Tür verbrennen. Da meint er - nix Russ, ich Kasache und wird gleich ärgerlich. Aber so braucht mir der nicht kommen. Ich sag, Tür kaputt, du Russ-Kasache, kaufst gefälligst eine Neue.” Wenn der Anton mal im Reden drin ist, bremst ihn so schnell keiner. Und so geht es flott weiter. „Es gibt schon viele arme Schlucker. Was die alles durchmachen müssen. Da stehn’s plötzlich da, a muslimische Familie im kalten Deutschland, mit einem Pappendeckelkoffer in der Hand und zusätzlich zum Schüttelfrost wird ihnen a lauwarme Leberkässemmel angeboten, weil grad nichts anderes mehr da ist. Das nenn ich Integration, pragmatisch umgesetzt. Ja, so sind’s, die Sozialarbeiter – viel diskutieren, aber nicht mal das Elementarste wissen, wenn’s drauf ankommt.“
Langsam lichten sich die Reihen. Die Mittagspausler eilen zurück in den jeweiligen Konkon ihrer Betriebe. Was bleibt, ist ein Stilleben aus halbleeren Gläsern, aufeinander gestapelten Tellern und achtlos hingeworfenen Servietten. Das polyglotte Kauderwelsch verschiedenster Dialekte ist verstummt. Nur Anton’s wechselnder Duktus, vom hochstilisierten Münchner Bayerisch ins etwas derbere Niederbayerisch, ist zu vernehmen. „Ja Marco, jetzt seh i di erst sitzen.” Und schelmisch fährt er fort: „Bist des Jahr schon Anwärter für den bayerischen Filmpreis?” „Schön wär’s, aber momentan hab i nix, nicht einmal ein Engagement”, gibt der Schauspieler lächelnd, aber leicht resigniert zurück. Anton, offen und ehrlich, kann sich in seinen Äußerungen nicht zurückhalten. „Weil du dich halt immer für so ein kopflastiges Zeug interessierst. Bewirb dich doch amoi für eine schöne Bauernrolle im Chiemgauer Volkstheater oder les an Toni Lauerer, der hot halt noch an Witz. Elsa, gut schaugst heut aus, wie eine Diva” nimmt er nun diese ins Visier und prostet beiden zu.
Die Gesellschaft ist wieder unter sich. Der alte Wiener hat leicht den Kopf geneigt, während der Philosophiestudent leise auf ihn einredet. Elsa, jetzt satt, lächelt müde aber zufrieden vor sich hin. Der Schauspieler hat sich in seine Welt der Ibsens und Shakespeares zurückgezogen, an seinen Visionen arbeitend. Luigi, der kleine Italiener, sitzt allein in seinem Jagdrevier. Seine Beute verschwand so schnell wie die Kaninchen im Erdloch. Anton, der Menschenkenner, lässt seinen Blick über die Anwesenden gleiten und verzieht sich dann in die Küche zu Evelin. Er mag sie einfach, die Träumer, Realisten, Fantasten, Weltverbesserer. Er mag erlebte Geschichten und ehrlichen Austausch.
Unkonventionelle Wirtshausgespräche in einer unkonventionellen Plattform:
Ja, es gibt sie noch, die Refugien der bayerischen Wirtshauskultur, die in der Web 2.0- Welt und Cyberspace-Apokalypse so dringend gebraucht werden.
© Sylvia Wimmer
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